SIHAM

          Foto ML


NORDIRAK 2018

 

Ich war bereits 2017 von Terre des Hommes eingeladen worden, Ende September zusammen mit Dima Orsho in den Irak zu reisen, um im Debaga-Flüchtlingscamp mit syrischen und irakischen Kindern und Jugendlichen zu musizieren. Da ich solche Sachen als "part of the mission" betrachte, habe ich damals sofort zugesagt. Dann kam der 25. September und das kurdische Unabhängigkeitsreferendum, das ein klares Votum für die Unabhängigkeit dieser Region ergab.

 

Das war nicht jedem recht. Die Zentralregierung in Bagdad erklärte die Abstimmung kurzerhand für illegal, die Türkei sah ihre Sicherheitsinteressen bedroht, und die Großmächte wollten sie auch nicht akzeptieren. Also schickte Bagdad die Armee, es gab Kämpfe und Tote und der Flughafen wurde geschlossen. End of mission ...

 

Die Reise wurde vorerst abgesagt. Ich verlasse mich in diesen Fällen immer auf zwei Dinge: erstens auf die Expertise von Organisationen wie TDH, UNHCR oder UNICEF. Die sind vor Ort und können die Lage gut einschätzen. Und zweitens auf die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes. Eine Reisewarnung ist eine andere Geschichte als ein Sicherheitshinweis, den bekommt man auch für Ostbelgien ... Reist man trotz einer Reisewarnung in das betroffene Gebiet, verliert man jeden konsularischen Schutz. Und selbst die Lebensversicherung ist perdu, hörte ich.

 

Nach und nach entspannt sich die Lage, und wir steigen um die Weihnachtszeit erneut in die Planung ein. Ende April 2018 soll es nun soweit sein.

 

 


MISSIONARE

Wie ich von Birgit Dittrich, der Organisatorin, in den Vorgesprächen erfahre, reise ich in offizieller Mission. Das hat unter anderem einen sehr günstigen Ticketpreis zur Folge. Ich bin also quasi jetzt Missionar. Eine eher ungewohnte Rolle...

 

Dabei entsteht ein lustiges Problem (für einige Zeit das letzte, was lustig ist): Mein Instrument, das ich seit 2018 nicht mehr teile und die eine Hälfte ins Aufgabegepäck gebe, (siehe Kapitel "Akkordeon") braucht einen eigenen Sitz. Ich weiß nicht, wie sie das hinbekommen haben, aber schließlich machen wir zwei "Missionare", nämlich mein Instrument und ich, uns auf den Weg über die Türkei in den Nordirak.

 

 

 


      Erbil Airport


Fotos ML

DEBAGA-CAMP


Es ist nicht mein erstes Camp. Ich habe schon in Jordanien und Palästina in Flüchtlingscamps gespielt, und es war jedes Mal bedrückend. Aber dieses hier hat eine Besonderheit: Es ist für die Insassen ausgesprochen perspektivlos. In dieser Region gibt es für niemanden etwas zu gewinnen, dementsprechend uninteressiert ist die Politik. Die Menschen, die jungen, die alten, und alle dazwischen, sind hier geparkt, werden irgendwie verwaltet, und ohne den Einsatz der Flüchtlingorganisationen wären sie ganz verloren.

 

Wir reisen am frühen Morgen von Erbil aus eine Stunde durch die Wüste, treffen im Camp ein und sehen zum ersten Mal die Mitarbeiter vor Ort. Ich bin froh, daß Dima dabei ist. Erstens ist sie eine enge Freundin, und wir haben uns eine Weile nicht gesehen. Und zweitens ist sie Araberin, was die Kommunikation mit den Kindern und Jugendlichen sehr erleichtert. Aber auch ohne Sprache ist es nicht schwer, Musik ist universell und wir sind nach kurzem "Scan" seitens der Kinder schnell beisammen. Wir sind wohl auch eine willkommene Abwechselung, und die Betreuer, die allesamt einen Riesenjob machen, sind auch immer da, um zu helfen und zu übersetzen.

 

Unsere Teilnehmer sind in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Kinder sind zwischen sechs und zwölf Jahre alt, die Jugendlichen zwischen 17 und 20. Entsprechend machen wir zwei Einheiten pro Tag, mit dem Ziel, am letzten Tag ein Konzert mit allen auf die Beine zu stellen.

 

 

 


SIHAM

Da stehen sie nun vor uns, die Kids. Beladen, traumatisiert, im Nirgendwo endgelagert. Und dennoch sind es Kinder und Jugendliche mit ihren Talenten, Träumen und Hoffnungen. Die Kleinen sind schnell überzeugt, denn Dima hat verschiedene Spiele im Repertoire. Einige davon fordern Konzentration und Koordination, wie zum Beispiel dieses: Man legt ein DIN-A4-Papier auf die flache Hand, und die Aufgabe besteht darin, es dem/der nächsten im Kreis ebenfalls auf die flache Hand zu legen, ohne daß es herunterfällt. Bei einem anderen geht es darum, ein Percussion-Ei mit spitzen Fingern an den nächsten so zu übergeben, daß kein Laut zu hören ist. Es ist mucksmäuschenstill im Zelt, und es bricht eine diebische Freude aus, wenn es einem der Kinder nicht geräuschlos gelingt. Wir spielen alle mit und merken, daß das nicht so einfach ist.

 

Dann kommen einfache rhythmische Übungen. Klatsche deinen Namen, und klatsche die betonten Silben etwas lauter als die unbetonten. Bei meinem Namen ist das einfach. Man-fred. Trotzdem verklatsche ich mich zum Spaß bei dieser simplen Aufgabe. Großes Gelächter.

Schwieriger wird es schon bei vielsilbigen Namen. Ab-del-a-ziz, Ab-del-ha-di, Mo-ham-mad. Manche machen das ohne Probleme, andere müssen's trainieren.

 

Als nächstes üben wir einige Lieder ein. Ich schaue in der orientalischen Welt immer mit etwas (weißem) Neid auf eine Sache: Es gibt Lieder, die einfach jeder kennt, der Vierjährige genauso wie die 80-jährige. Man nennt das wohl Kultur. Und da weiß in ihrer Kultur wieder Dima Bescheid. Sie hat vorab einige populäre Lieder ausgesucht, darunter das herrlich ironische "Almaya", hier zu sehen in einer köstlichen Version: Almaya. Und so üben wir mit den kleinen und größeren Teilnehmern ein paar Lieder ein, die wir am kommenden Samstag zusammen mit ihnen aufführen möchten. Wir ermuntern aber auch alle, zum Konzert etwas beizusteuern, das ihnen selbst am Herzen liegt.

 

 

Dann kommt er, der große Tag, und mit ihm circa 120 Menschen, die den kleinen Saal füllen. Es ist etwas hektisch. Die Kinder hängen bis zur letzten Sekunde Girlanden und Luftballons auf, über die andauernd irgendwer stolpert. 

Das Netzteil des Pianos funktioniert nur, wenn man das Kabel mit einer abenteuerlichen Konstruktion aus Büchern und Klebeband in einem bestimmten Winkel fixiert. So etwas ist als Tontechniker traditionell mein Job. Es funktioniert, irgendwie ...

 

Und dann geht es los. Spannung! Dima und ich eröffnen das Konzert mit meiner "Arabesque" und mit "Wa Habibi", einem arabischen Lied, das die Passionsgeschichte Christi besingt. Sachen gibt's.

Dima ist ein Gewitter. Die Melodie der "Arabesque" ist eine Art Koloratur, und ich kenne außer Dima niemanden, der sich traut, so etwas zu singen. Aber Dima traut sich, weil sie es kann. Ich glaube, wir pusten mit diesen beiden Stücken unser Publikum an die Wand. Damit hatte wohl niemand gerechnet. Jetzt ist die Bühne bereitet für die eigentlichen Hauptdarsteller des Morgens: die Kinder.

 

Es gibt die verschiedensten Talente zu erleben. Der Junge, der seine Arme im Krieg verloren hat, und der zum Auftritt seine Prothesen angelegt hat. Er verfasst Gedichte, und er trägt eines davon vor. Weil ich kein kurdisch verstehe, übersetzt es mir einer der Mitarbeiter simultan. Es handelt von der Sehnsucht nach einem Zuhause, nach einer Familie, nach etwas Ruhe und Glück. Sein Vortrag berührt alle. Auch mich.

 

 

 

Und dann ist da Siham. Vielleicht 14 Jahre alt. Ein Feuerwerk an Können und Bühnenpräsenz. Sie genießt es, mit Ihrem Vortrag zu glänzen und im Mittelpunkt zu stehen. Und das zu Recht! Sie hätte alles, was man braucht, um eine Karriere als Sängerin zu versuchen.

Ich versuche nach ihrem Auftritt, eine Aufnahme mit ihr vom Zaun zu brechen. Ich könnte daheim Playbacks vorbereiten, die passenden Musiker würde ich kennen. Ich könnte mit diesen Playbacks und einem kleinen Aufnahmeequipment noch einmal ins Lager reisen, ihre Stimme aufnehmen, und daheim im Studio eine CD fertigstellen.

 

Was ich übersehe ist, daß ich mit einer solchen Aktion Hoffnungen wecken könnte, die am Ende nicht erfüllbar wären, und das würde dem Kind schaden. Schade ...

 

 

Foto ML


WAS MAN AUSHALTEN MUß

Es mag seltsam klingen: Die Menschen dort müssen eine Menge aushalten, aber man kommt auch selbst nicht ungeschoren davon. Die Tatsache, daß ich im Gegensatz zu den Lagerbewohnern jeden Abend durch ein von Peschmergakriegern gesichertes Tor in die Freiheit entkommen, und nach einstündiger Fahrt auf der Dachterasse unseres Hotels einen Gin & Tonic und das freie Leben genießen kann, ist nicht einfach zu wechseln. Der Austausch mit Dima und den Mitarbeitern von TDH hilft zwar, aber die Eindrücke des Tages lassen mich alles andere als unberührt.

 

 

 

 

                                 Foto ML

ABDULHADI

Er ist ein kleines ursympathisches Schreckgespenst, das auf drei Rädern den Teil des Geländes unsicher macht, auf dem unser Workshop stattfindet. (Weiter unten ein sehr gelungener Artikel von Thomas Ludwig dazu.)

 

 Foto ML

WAS LERNE ICH DARAUS?

Unser Leben hier, in Frieden und Freiheit, ist keine Selbstverständlichkeit. Wir sollten es schätzen und etwas dafür tun. Und wenn dann noch Zeit und Kräfte übrig sind, sollten wir die für diejenigen einsetzen, die nicht so ein Glück haben. Im nächsten Frühjahr werde ich ins Lager zurückkehren.

 

 

 


Ein kleines filmisches Dokument aus dem Workshop mit den Kindern